Fischer über Fischer

Den folgenden Brief schrieb Ernst Fischer Ende der
fünfziger Jahre an seinen Verleger Dr. Hans Gerig.

Sehr verehrter, lieber Freund,

Sie fragen mich, wie ich zur Unterhaltungsmusik gekommen bin. Sehr einfach: Ich wurde für diesen Zweck in Magdeburg geboren! Meinen ersten Walzer „Elfenreigen“ komponierte ich im Alter von sechs Jahren, und der Marsch „Unter Trappern“ folgte erst fünf Jahre später. Als ich 14 Jahre war, führte mich Albert Mattausch in den Zwang von Harmonielehre und Kontrapunkt ein. Dann aber verkomponierte ich alles, was mir vor die Flinte kam: „Des Sängers Fluch“, „Napoleons Tod“ und Sonaten à la Beethoven mit einem Spritzer Puccini. Für meine Mutter stand fest: „Unser Junge wird Komponist!“ Sie kannte zwar keine Noten, pfiff und sang aber den ganzen Tag - einerlei, ob ihre Themen aus einer geliebten Beethoven-Sinfonie oder aus dem „Vogelhändler“ stammten. Mein Vater, der Natur nach vorsichtiger, wollte aber eine fachmännische Beurteilung meiner Begabung haben. Da mich die veristische Oper „Tiefland“ damals tief beeindruckt hatte, war Eugen d’Albert Nummer 1 unter meinen Göttern. Er ist wie ich am 10. April geboren. So wurde er bemüht, sich mit meinen „Werken“ zu befassen, um dann sein Urteil zu fällen. Es war vernichtend: obwohl Talent vorhanden sei, würde er abraten, die Laufbahn eines Komponisten einzuschlagen.

Meine Eltern waren keineswegs erschüttert. Man befand: „Der Junge muß etwas Richtiges lernen und auf eine gute Schule!“ Zu diesem Zweck erwählte mein Vater die Stadt Frankfurt am Main; nicht etwa, weil ihm das Hoch’sche Konservatorium oder das Musikleben dieser Stadt ein Begriff waren, sondern einfach, weil er - der aus dem Taunus stammte - dort Verwandte hatte, bei denen ich billig wohnen konnte. So wurde ich mit 16 Jahren Kompositionsschüler von Waldemar von Baußnern, der mich einer sehr fortgeschrittenen Kontrapunkt-Klasse von Bernhard Sekles zuteilte. Dieser musterte mich damals mit äußerstem Mißtrauen, aber nach einem Blick auf meine Arbeiten meinte er gut gelaunt: „Dann haben Sie wohl unmittelbar nach ihrer Geburt mit dem Kontrapunkt begonnen, junger Mann?“

Unter seiner einzigartigen Leitung wurden die Waffen geschärft: dreistimmig, fünfstimmig, Kanon, Fuge, doppelter und dreifacher Kontrapunkt, Umkehrung, Engführung, Formenlehre, Instrumentation usw. Dazu kamen noch Violine, Klavier, Pauken (!), Dirigier-Unterricht und viele andere Dinge, in die ich mich mit größter Begeisterung stürzte.

Abends traf ich mich oftmals mit einigen Studienfreunden, um mit der gleichen Begeisterung der „heiteren Muse“ zu frönen. Dazu hatten wir uns S.O.-Ausgaben von „Dichter und Bauer“ und andere Kaffeehaus-Ouvertüren besorgt und nannten das Ganze „Fez-Musik“. Leider mußte ich dabei als Stehgeiger fungieren, obwohl ich für die Violine nicht begabt war. Und wenn der „Soldat Paul Hindemith“ aus dem Felde auf Urlaub kam, traf ich ihn häufig bei gemeinsamen Bekannten. Der bewunderte Bratscher war kein Pianist, spielte aber gern Klavier - auf seine Art. Da er, wie ich, einen großen Teil der Strauß-Walzer auswendig kannte, unterhielten wir auf diese Weise vierhändig unsere Zuhörer.

Nach drei Jahren verließ ich Frankfurt, um für weitere drei Jahre nach Berlin an das Stern’sche Konservatorium zu gehen. Rudolf Maria Breithaupt verdanke ich die solide Ausbildung in der „natürlichen Klaviertechnik“. Sehr wahrscheinlich würde ich noch heute darin vertieft sein, wenn mich nicht hart und realistisch denkende Zeitgenossen gezwungen hätten, endlich einmal das Erworbene praktisch auszuwerten. So konzertierte ich dann einige Jahre mit den bekanntesten Klavierkonzerten und einem guten Dutzend Klavier-Abend-Programmen in großen und kleinsten Städten.

Aber, fast unbemerkt, hatte die leichte Muse schon zu ihrer entscheidenden Offensive angesetzt. Große Filmtheater besaßen schon große Orchester, aber keine geeignete Literatur. Also begann ich „Kinotheken“ zu schreiben. Der Rundfunk hatte bereits eine Million Hörer, aber keine spezifische Unterhaltungsmusik. Also schrieb ich „Südlich der Alpen“. Auch die Schallplatte streckte ihre Fangarme aus und servierte mich als „Marcel Palotti an der großen Odeon-Orgel“ oder als „Ernst Fischer an der Wurlitzer-Orgel“, je nach Firma. Die Aktualität der neuen Aufgaben faszinierte mich so, daß ich meine atonalen Kompositionen und Konzerte bald vergessen hatte. Jetzt stand der Marschplan fest, und die Fortsetzung meiner Story kennen Sie, lieber Freund, aus eigener Beobachtung sehr gut. Sie wissen aber auch, daß ich sie immer verteufelt ernst genommen habe, die „heitere Muse“!

Damit verbleibe ich als Ihr

Ernst Fischer